Kapitel 9
„Hurra!“
Adelaide schwang ihren Besen jubelnd durch die Luft. Doch plötzlich hörte und spürte sie einen lauten Schlag. Sie hatte mehr als nur Luft getroffen. Eine männliche Stimme schrie erstickt auf. Adelaide presste die Augen fest zusammen und wagte nicht, sich umzuwenden, um nachzuschauen, was sie diesmal angerichtet hatte. Ihr Herz setzte erst einen Schlag aus, um dann doppelt so schnell zu klopfen.
Mr Westcott stand leicht nach vorn gebeugt hinter ihr und hielt sein Kinn. Vorsichtig bewegte er seinen Unterkiefer hin und her, als müsse er überprüfen, ob etwas gebrochen war. Als er sie anschaute, erwartete sie, Wut in seinen Augen zu sehen, doch seine dunkelbraunen Augen funkelten amüsiert.
„Eines Tages lerne ich noch, mich an Sie anzuschleichen, ohne dafür körperlich bestraft zu werden.“
Das Fiasko im Pferdestall kam ihr wieder in den Sinn. Gestern hatte sie ihn mit Hafer paniert und heute mit einem Besen niedergeschlagen. Wenn das so weiterginge, wäre er am Ende der Woche tot.
„Mr Westcott, es tut mir unendlich leid. Ich hatte nicht gehört, dass Sie eingetreten sind.“ Adelaide ließ den Besen fallen, als wäre er der einzige Übeltäter.
Er befühlte noch einmal seinen Kiefer und ließ dann die Hand sinken. „Ich glaube nicht, dass Sie einen bleibenden Schaden verursacht haben.“ Der rote Fleck auf seiner Wange schien etwas anderes zu sagen.
„Außerdem“, fuhr ihr Arbeitgeber fort, „können wir diesen Unfall doch nicht die schöne Feier stören lassen. Ich hatte noch keine Zeit, meiner tapferen kleinen Soldatin zu gratulieren.“ Er sah an Adelaide vorbei. „Komm her, Bella.“
Das Kichern war verschwunden, aber ein Lächeln lag immer noch auf dem Gesicht seiner Tochter. Sie kam zu ihm herüber und er schloss sie in die Arme. „Ich bin beeindruckt von der ganzen Arbeit, die ihr beide hier oben geleistet habt. Sieht aus, als hättet ihr Spaß gehabt.“
Isabella nickte begeistert.
„Was hat dir den größten Spaß gemacht?“
Isabella antwortete, indem sie ihre Hände zusammenlegte und mit den Fingern wackelte. Dann legte sie die Hände aufeinander, als halte sie einen Besen, und machte schnelle Kehrbewegungen.
Adelaide beobachtete Gideon genau und war beeindruckt davon, dass sein Lächeln nicht schwächer wurde. Nur das nachlassende Funkeln in seinen Augen drückte leise Enttäuschung aus. Wenn Adelaide bedachte, wie sehr sie selbst unter dem Schweigen des Mädchens heute Nachmittag gelitten hatte, konnte sie nur erahnen, wie sehr seine Gefühle verletzt waren.
„Also gefällt es dir, feindliche Spinnen zu vernichten?“
Isabella nickte nur. Gideon schienen langsam die Worte auszugehen. Adelaide sprang in die Bresche und hoffte, dass sie die unangenehme Situation retten konnte.
„Erzähl deinem Vater, wie viele Spinnen du besiegt hast.“
Isabella hielt ihre Hände hoch und zeigte sieben Finger.
„Sieben? Meine kleine Bella? Das kann ich gar nicht glauben.“
Das Mädchen hob sein Kinn und tippte sich auf die Brust, um ihre Aussage zu bestärken.
„Ich habe sie Spinnentöterin getauft.“ Adelaide lächelte und hob ihren Blick, wobei ihre Augen die Gideons trafen. Einen Moment lang vergaß sie, über was sie überhaupt geredet hatten.
Gideon räusperte sich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Tochter zu. Er umarmte sie noch einmal. „Nun, Miss Spinnentöter, das Abendessen ist gleich fertig. Warum wäschst du dir nicht die Hände und siehst nach, ob Mrs Chalmers noch Hilfe braucht?“
Isabella salutierte zackig und sprang die Treppe hinunter.
„Ich werde mich auch ein wenig frisch machen“, sagte Adelaide und war sich ihrer schmutzigen Schürze mehr als bewusst. Sie ging in Richtung Tür, doch Mr Westcotts Stimme ließ sie innehalten.
„Ich würde gerne einen Moment mit Ihnen reden, Miss Proctor.“
„Natürlich, Sir.“ Adelaide strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie wünschte sich, sie würde ordentlicher aussehen. Keine anständige Hauslehrerin sollte so zerzaust und verschwitzt herumlaufen. Aber eine anständige Hauslehrerin würde ihren Arbeitgeber auch nicht mit einem Besen niederschlagen. Innerlich seufzend versuchte sie, möglichst würdevoll zu wirken. Nach diesem Missgeschick war ihr Aussehen wahrscheinlich sowieso ihr geringstes Problem.
Sie wartete darauf, dass er endlich anfing zu sprechen, doch er starrte nur auf den Boden und verlagerte sein Gewicht von einem auf das andere Bein. Schließlich hob er den Blick und wollte etwas sagen, doch als sich ihre Augen trafen, erstarrte er. In diesem Moment konnte Adelaide seinen Schmerz erkennen, seine Zweifel. Als er erneut blinzelte, war der Moment vorbei. Sein Lächeln kehrte mit ganzer Macht zurück. Wieder wurde ihr flau im Magen, als er sie so ansah.
„Sie haben heute Nachmittag einiges geleistet, Miss Proctor.“
Adelaide betrachtete ihn noch einen Augenblick. „Danke, Sir. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich mir den einen oder anderen Gegenstand Ihres Haushaltes ausgeliehen habe, um den Unterrichtsraum einzurichten.“
„Nicht im Mindesten. Ich bin froh, dass Sie alles gefunden haben, was Sie brauchten.“
Er sah sich noch einmal lächelnd um, doch Adelaide ließ sich nicht täuschen. Sie spürte, dass unausgesprochene Fragen in der Luft hingen.
„Isabella hat nicht mehr gesprochen, seit sie aufgewacht ist.“
Mr Westcott wandte sich wieder ihr zu. Sein Lächeln war verschwunden. Adelaides Herz war gerührt.
„Ich habe sie mehrmals Dinge gefragt, aber sie hat sich so verhalten, als hätte der heutige Morgen niemals stattgefunden. Vielleicht ist es gut, dass sie sich nicht erinnert … zumindest für den Moment.“ Adelaide legte ihre Hand kurz auf seinen Arm, bevor sie sie schnell wieder zurückzog. „Es tut mir leid, Mr Westcott.“
„Ich hatte gehofft, dass …“ Er schüttelte den Kopf. „Es macht nichts. Alles wird so kommen, wie Gott es geplant hat. Ich sollte nicht so unersättlich sein.“
Sie hob eine Augenbraue. „Unersättlich?“
Die Grübchen kehrten zurück, zusammen mit einem Funkeln in den Augen. „Ich habe keinen Grund, zu jammern, wo Sie ihr heute doch so viel weitergeholfen haben.“
„Ich wüsste nicht, was –“
„Miss Proctor.“
Der Rest ihrer Worte löste sich auf.
„Sie haben an einem einzigen Nachmittag geschafft, was ich in Monaten nicht erreichen konnte.“ Gideon hielte inne und Adelaide schmolz bei seinem sanften Blick fast dahin. „Bella hat gelacht.“
* * *
Am nächsten Morgen schlich Gideon kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus und machte sich auf den Weg zum Stall, um sein Pferd zu satteln. Er bevorzugte immer noch den leichten englischen Sattel, wenn es um Ausritte ging, wohingegen er sich mittlerweile an den schwereren Westernsattel gewöhnt hatte, wenn er an der Arbeit war. Das riesige Ding war unhandlich, aber dennoch sehr praktisch.
Seit er in diesem Land lebte, hatte Gideon sich in den meisten Lebenslagen daran gewöhnt, die Tradition mit dem Nützlichen zu vermischen. Diese Mischung zeigte sich auch in seinem Stall. Er hielt zwei Thoroughbreds für Anlässe, bei denen er repräsentieren musste und für das Rennen, das einmal im Jahr stattfand, aber sein Lieblingspferd war Salomo. Der kastanienbraune Wallach hatte einen sicheren Tritt in schwierigem Gelände und war so klug wie sein Namenspatron – obwohl es nicht einer gewissen Ironie entbehrte, einen kastrierten Hengst nach einem Mann zu benennen, der siebenhundert Frauen gehabt hatte. Doch seine Intelligenz war unbestreitbar. Salomos Instinkte hatten Gideon mehr als einmal vor Raubtieren oder Schlechtwetterfronten gewarnt. Manchmal hatte Gideon sogar den Eindruck, dass sein Pferd verlorenen gegangene Schafe wittern konnte.
Gideon war mit seinen Vorbereitungen fertig und schwang sich in den Sattel. Er tätschelte den Rücken des Pferdes und beugte sich nach vorne, um direkt in Salomos Ohr zu sprechen.
„Fertig, Junge?“
Salomo antwortete, indem er unruhig tänzelte. Gideon lachte und verstärkte seinen Griff um die Zügel. Leicht drückte er dem Wallach die Hacken in die Flanken, der sofort losgaloppierte. Sie jagten in Richtung Fluss.
Rosafarbene Wolkenfetzen hingen am Himmel, während Gideon über endloses Grasland zu fliegen schien. Der kühle Wind umwehte sein Gesicht und weckte seine Lebensgeister. Es war viel zu lange her, seit er sich Zeit genommen hatte, mit dem Herrn allein zu sein. Seine Angewohnheit, jeden Morgen in der Bibel zu lesen, war nach und nach von der vielen Arbeit verdrängt worden, die jeder Tag mit sich brachte. Doch als Miss Proctor die Bibel in seinem Büro angesprochen hatte, war in ihm die Sehnsucht nach Gottes Nähe neu erwacht.
Gideon zügelte Salomo, als er sich der Anhöhe näherte, von der aus man den Fluss überblicken konnte. Er liebte diesen Ort. Das Wasser floss ruhig und beständig an ihm vorbei. Gewaltige Pekannussbäume säumten das Ufer. Hinter dem Fluss erstreckte sich sein Land noch viele Meilen weit in einer Schönheit, die nur ein Besitzer mit Visionen zu schätzen wusste.
Etwas Gelbes zu seiner Rechten zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er wandte den Blick von der beeindruckenden Aussicht ab, um ihn auf ein im Wind flatterndes Kleid zu richten. Nun, das war ganz offensichtlich eine Schönheit, die jeder Mann zu schätzen wusste. Zarte Züge, volles dunkelbraunes Haar und Augen, die ihn an den Fluss an einem Sommertag erinnerten: blaugrün mit einem wunderbaren Funkeln.
Was denke ich nur? Er wandte sich schnell ab und sah in die andere Richtung. Die Frau war die Lehrerin seiner Tochter, keine Lady der Gesellschaft, um die er sich ernsthaft bemühen konnte.
Gideon überdachte seine Möglichkeiten. Sollte er gehen? Er warf einen Blick zurück zum Fluss. Miss Proctor saß an einen Baum gelehnt, hatte die Beine angezogen und ein Buch darauf liegen. Verträumt starrte sie in die Ferne. Sie schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Noch konnte er unentdeckt verschwinden. Doch wenn sie ihn dabei erwischte, dass er davonritt, ohne mit ihr gesprochen zu haben, würde er äußerst unhöflich erscheinen.
Und ein Gentleman verhielt sich einfach nicht so, egal wie verlockend der Gedanke auch war.
Resigniert seufzend, stieg Gideon ab und ließ Salomo grasen. „Guten Morgen, Miss Proctor.“
Sie wandte sich ihm erschrocken zu, wobei das Buch in den Falten ihres Kleides verschwand.
Er bedachte sie mit seinem besten Lächeln. „Ich hatte nicht erwartet, Sie heute Morgen hier draußen zu treffen.“
„Mr Westcott!“ Ihre Augen wurden groß, als wäre sie beim Silberstehlen erwischt worden. „Mrs Garrett hat gesagt, sie würde sich um Isabella kümmern, falls sie aufwacht und ich noch nicht zurück bin. Aber wenn Sie möchten, dass ich zurückkehre, mache ich das natürlich.“ Schnell schnappte sie sich ihr Buch und wollte aufspringen.
„Bleiben Sie ruhig sitzen, Miss Proctor.“ Er winkte ab. „Ich werde Ihnen Ihre morgendliche Ruhezeit nicht nehmen. Nicht, wo ich doch auf der Suche nach der gleichen Sache war.“
Sie kam seiner Aufforderung nach, doch ein Rest Unsicherheit konnte er nach wie vor in ihren Augen lesen. Nachdem sie ihr Kleid ordentlich gerichtet hatte, lächelte sie zu ihm hinauf. „Sie können sich gerne mit an meinen Baum lehnen, wenn Sie möchten. Die Aussicht ist wunderbar und ich verspreche, dass ich keine lästig plappernde Gesellschafterin sein werde.“
„Danke, Ma’am“, imitierte er in seinem besten Texasslang. „Aber verzeih’n Sie, wenn ich eine bin.“
Ihr leises Lachen, als sie beiseiterutschte, um ihm Platz zu machen, beruhigte ihn. Er streckte ein Bein aus und stützte seinen Arm auf dem anderen ab. Ein sanftes Rosa trat auf ihre Wangen, als er sie anlächelte, aber sie wandte sich nun wieder ihrer Bibel zu und erinnerte ihn daran, warum er selbst hierhergekommen war.
Er griff in seinen Mantel und holte seine Taschenbibel hervor. Er blätterte eine Weile darin herum, konnte sich aber beim besten Willen nicht konzentrieren. Schließlich wandte er den Blick zur Seite, um den gelben Stoff neben sich nicht mehr die ganze Zeit zu sehen – und vor allem nicht die Person, die das Kleid so wunderbar schmückte. Doch dann wehte eine leichte Brise Miss Proctors Duft zu ihm. Er atmete tief ein, um ihr feminines blumiges Parfüm zu genießen, bis ihm auffiel, dass er sich an kein einziges bisher gelesenes Wort erinnern konnte.
Schließlich drehte Gideon Miss Proctor seinen Rücken zu und beugte sich tiefer über die Bibel. Dann hörte er plötzlich nichts außer ihrem ruhigen, gleichmäßigen Atem, das sanfte Rascheln ihres Kleides, das leise Knistern der Seiten, wenn sie blätterte.
Belästigung! Gideon sprang auf, sodass Zweige und Kiesel lautstark unter seinen Stiefeln knirschten. Miss Proctor fuhr erschrocken zusammen.
„Verzeihung.“ Gideon ging ein paar Schritte in Richtung Fluss. „Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.“
„Das kann ich verstehen“, sagte sie hinter ihm. „Ich bin sicher, dass Sie viel auf dem Herzen haben.“
Er ließ sich auf diese Ausrede ein. „Sie haben recht. Das habe ich. Das Scheren beginnt nächste Woche und wir müssen alles vorbereitet haben, bis die Männer hier eintreffen. Bellas Zustand geht mir nie aus dem Kopf. Und als wäre das nicht schon genug, geht auch noch ein Vandale um, der meine Zäune beschädigt.“
Das Rascheln ihres Kleides verwirrte seine Gedanken erneut, als Miss Proctor sich bewegte, doch er hielt seinen Blick stur geradeaus gerichtet.
„Wissen Sie, wer der Täter war?“
„Nein. Wahrscheinlich ein gewissenloser Cowboy, der mir sagen will, dass Zäune nicht ins offene Weideland gehören.“
„Gewissenloser Cowboy?“ Etwas in ihrer Stimme hatte sich verändert. Sie klang verärgert.
Gideon wandte sich nun doch um und bemerkte, dass sie auf ihn zutrat.
„Es tut mir leid, dass jemand Ihren Zaun zerstört hat, Mr Westcott, aber es gibt keinen Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es hätte jeder sein können. Ein Landstreicher. Ein Junge, der sich einen Scherz erlauben wollte. Ein hungriger Dieb. Kein Cowboy, den ich jemals getroffen habe, würde den Zaun eines Mannes zerschneiden oder sich in anderer Weise gewissenlos verhalten.“
„Und kennen Sie viele Cowboys, Miss Proctor?“, fragte Gideon sarkastisch. Aus irgendeinem Grund hatte er keine Lust, einem offenbar bevorstehenden Konflikt aus dem Weg zu gehen. Diese Frau hatte ihn abgelenkt, seit er hierhergekommen war, gerade ziemlich streitlustig.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Tatsache ist, dass mein Vater jahrzehntelang Viehzüchter war. Sie hätten schwerlich einen Mann von größerer Integrität gefunden. Und seine Männer teilten diese Werte.“
„Ich bin sicher, dass Ihr Vater über jeden Zweifel erhaben war, doch nicht alle Viehzüchter sind das. Sogar in England haben wir von den Landstreitigkeiten gehört, die in den letzten Jahren hier in Texas stattgefunden haben.“
„Und die meisten wurden durch Einwanderer ausgelöst, die ihre Schafherden auf Land weiden ließen, das Viehzüchtern gehörte.“ Miss Proctor reckte ihr Kinn, unerschüttert in ihrer Loyalität.
„Sie vergessen die Tatsache, dass die Cowboys die Rinderherden auf dem Weg zu den Märkten über Land trieben, das Schafzüchtern gehörte. Die Tiere fraßen das Gras, soffen die Wasserlöcher leer und zertrampelten die Erde.“
„Also gab es Schuldige auf beiden Seiten. Das heißt aber nicht, dass Sie wie selbstverständlich Rinderzüchter oder Cowboys für Ihren zerschnittenen Zaun verantwortlich machen dürfen.“
Gideon ging auf Miss Proctor zu und starrte böse auf sie hinab. Sie wich nicht zurück, sondern hob ihren Kopf noch ein Stückchen höher, um ihm in die Augen schauen zu können.
„Wissen Sie“, sagte er, „es ist noch nicht zu spät, Miss Oliver zurückzuholen. Ich bin sicher, sie würde eine viel fügsamere Lehrerin abgeben.“
Im gleichen Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, bereute er sie auch schon. Der erschrockene Gesichtsausdruck von Miss Proctor drückte ihm das Messer der Schuld nur noch weiter ins Herz.
Sofort trat er einen Schritt zurück und streckte ihr die Hände entgegen. „Ich meinte es nicht so, es tut –“
„Nein, nein. Sie haben absolut recht.“ Sie nickte beschämt und senkte den Blick auf den Boden. „Ich habe meine Kompetenzen überschritten und unüberlegt gesprochen. Ich fürchte, ich tue so etwas zu häufig. Es war respektlos und anmaßend von mir und ich kann Sie nur um Verzeihung bitten.“ Sie zögerte, als suche sie nach der Kraft, ihn wieder anzuschauen. Endlich hob sie wieder ihr Kinn. In ihren Augen standen Tränen.
Wenn Gideon ein Reiter gewesen wäre, der eine Gerte verwendete, hätte er sich in diesem Moment selbst damit geschlagen.
„Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss, nicht Sie.“ Er hätte am liebsten den Abstand zwischen ihnen wieder überbrückt, doch er hielt sich zurück. „Ich hätte eine solche Drohung niemals aussprechen dürfen. Es war verletzend und völlig unüberlegt. Nach dem, was Sie gestern erreicht haben, würde ich Sie nicht einmal gehen lassen, wenn Sie mich darum bitten würden.“
Miss Proctor blinzelte. Das war alles. Sie sagte kein Wort.
Gideon legte eine Hand in den Nacken und ballte die andere so fest zur Faust, dass es schmerzte. Mit einem Seufzen ließ er sie wieder locker.
„Sie hatten recht, was den Zaun betrifft. Ich weiß nicht mit Sicherheit, wer ihn zerschnitten hat. Ich bin von Rinderzüchtern umgeben, also habe ich eine Vermutung ausgesprochen. Ob ich richtig liege oder nicht, spielt im Moment keine Rolle.“ Er blickte in Richtung Himmel. „Ich habe elf Schafe verloren. Ein paar Mutterschafe sind in eine Schlucht gestürzt und einige Lämmer wurden in der Panik zertrampelt. Deshalb bin ich so wütend auf den Schuldigen.“
Gideon hielt einen Moment inne, dann wandte er sich wieder Miss Proctor zu. „Als Sie die Rinderzüchter verteidigt haben, hatte ich das Gefühl, als stünden Sie auf deren Seite und rechtfertigten den, der meinen Zaun zerstört hat und für den Tod meiner Tiere verantwortlich ist.“
„Das ist ja schrecklich. Ich würde eine solche Tat niemals verteidigen oder rechtfertigen. Ich –“
Gideon erhob seine Hand. „Natürlich würden Sie das nicht. Und jetzt …“ Eine kleine Ansammlung weißer Gänseblümchen neben Miss Proctors Stiefeln erregte seine Aufmerksamkeit. Er grinste und bückte sich nach den zarten Pflänzchen. „Würden Sie meine Entschuldigung annehmen, verehrte Dame, und die gesamte Unterhaltung aus Ihrer Erinnerung streichen?“
Zu seiner großen Erleichterung lächelte sie wieder, nickte zustimmend und nahm sogar den kleinen Blumenstrauß an. „Danke, Sir, alles ist vergeben.“
Ihre Augen schimmerten nicht länger feucht vor Tränen, sondern funkelten wieder übermütig. Gideon fand es schwer, den Blick von ihnen zu lösen. In der Nähe schnaubte ein Pferd und brach den Zauber. Eine kleine schwarze Stute hatte sich zu Salomo gesellt.
„Das ist mein Stichwort“, sagte Miss Proctor, während sie die Blumen in ein Knopfloch ihres Kleides steckte. „Saba gibt mir immer Bescheid, wenn es Zeit ist, zurück an die Arbeit zu gehen.“
„Saba?“ Gideon konnte das Lachen in seiner Stimme nicht unterdrücken.
„Machen Sie sich etwa über mein Pferd lustig?“ Miss Proctor verschränkte die Arme gespielt ärgerlich. „Sie entstammt einer der besten Züchtungen in Texas. Mein Vater hat ihr den Namen gegeben, bevor er sie mir zu meinem sechzehnten Geburtstag schenkte.“
„Es ist ein guter Name“, beeilte sich Gideon zu versichern. „Eigentlich sogar ein sehr guter, wenn man bedenkt, dass mein Pferd Salomo heißt.“
Ihre Mund klappte auf, bevor sie plötzlich schallend zu lachen begann. Der glockenklare Klang umspülte ihn in einer sanften Welle.
„Nun, mit einem solchen Namen ist Ihr Pferd bestimmt klug, aber kann es auch laufen?“
Bevor er etwas erwidern konnte, rannte Miss Proctor zu ihrem Pferd und schwang sich mit beeindruckender Leichtfüßigkeit in den Sattel. Bewundernd starrte er sie einen Augenblick lang an, bevor er merkte, was sie vorhatte, als sie davongaloppierte. Rasch sprang er auf sein eigenes Pferd, um die Verfolgung aufzunehmen.
Salomos Hufe schlugen dumpf auf die Erde, als der Abstand zu der Stute immer kleiner wurde. Adrenalin schoss durch Gideons Adern und er fühlte sich so lebendig wie lange nicht. Vom Ehrgeiz gepackt, Miss Proctor einzuholen, fragte er sich nicht einmal, warum es sich so unglaublich richtig anfühlte, dieser Frau hinterherzugaloppieren.